Autor dieses faktenreichen Buches ist der beeindruckend analytisch denkende, ehemalige SPD-Vorsitzende und Vizekanzler Sigmar Gabriel, der sich bis vor noch nicht allzu langer Zeit als Wirtschafts- und Außenminister auf der internationalen Bühne bewegte.
"Mehr Verantwortung in ungewissen Zeiten" lautet der Untertitel des Werks. Damit die Leser einen Eindruck davon erhalten, wie ungewiss die Zeiten, in denen wir leben, tatsächlich sind, berichtet der Autor ausführlich aus seinen reichhaltigen Erfahrungen, schreibt über drei deutsche Sonderwege, die zum Unmut unserer Nachbarn geführt haben und hier vor allem auch von der Flüchtlingskrise, die die Lage in Europa grundlegend verändert und sich als Europas 11. September erwiesen habe.
Ein starkes Land wie Deutschland müsse sich einem Perspektivwechsel unterziehen und zwar hin zur Sichtweise der Schwächeren, um Sonderwege zu vermeiden, weil nur ein geeintes Europa handlungsfähig sei und bleiben müsse in diesem unruhigen Zeiten. Ohne ein geeintes Europa bestehe die Gefahr, dass wir in der Welt des 21. Jahrhunderts untergehen, weil diese Welt sich rasant und dramatisch verändere und uns alle durch Ungewohntes herausfordere. Dem könnten die Europäer nur gemeinsam begegnen.
Auf dem Weg in eine neue Welt erfährt man mehr über Donald Trumps "Zuverlässigkeit" und weshalb mit ihm die USA vom Architekten und Garanten der liberalen Weltordnung zu deren Abrissunternehmer mutiere. Hier liest man auch, dass Trump im Umgang mit Europa keine Partnerschaft, sondern Gefolgschaft wolle.
Sigmar Gabriel schreibt dann weiter über die weltpolitischen Spielregeln des 20. Jahrhunderts. So erfährt man von den Phasen Weltordnung 1.0 und 2.0 und auch, dass wir uns derzeit am Übergang zu einer Weltordnung 3.0 befänden. Allerdings seien deren Konturen noch nicht deutlich sichtbar. Amerikas Macht und Ressourcen seien relativ geschrumpft, während andere Mächte wie China, Russland und der Iran ihre Ziele konsequent weiterverfolgten und sie sich deshalb weiterentwickelt hätten. In der noch nicht neu geordneten Welt bleibe die USA in absehbarer Zeit allerdings immer noch stärkste Kraft, aber Europa verlöre aus diversen Gründen, die Gabriel nennt, wohl seine Sonderstellung. An allen außenpolitischen Fronten sehe sich Europa derzeit bedroht.
Was es bedeute, dass die Welt sich im Krisenmodus befindet, beschreibt der Autor ausführlich, erwähnt wird auch die rapide wachsende internationale Kriminalität und die verursachten Schäden, die Interpol auf jährlich bis zu 4,8 Billionen US-Dollar beziffere.
Man liest von der nuklearen Bedrohung in unserer aus den Fugen geratenen Welt und dass Abrüstung und Rüstungskontrolle nicht mehr auf der internationalen Agenda stünden. Auch liest man von der wachsenden sozialen Ungleichheit, die längst schon die Mittelschichten erreicht habe. Die entgrenzte Globalisierung sei verantwortlich für die wachsende Kluft bei den Vermögensverhältnissen, die weitgehend unkontrollierte Rolle der Finanzmärkte, bei der neoliberalen Wende, dem Kontrollverlust staatlicher Institutionen und der Freisetzung bürgerlicher Wutkräfte. Die Zeiten sind ungewiss, ohne Frage.
Sigmar Gabriel stellt in einem Exkurs Überlegungen an zur Attraktivität der Autoritäten. Dies hier näher auszuführen, sprengt allerdings den Rahmen der Rezension.
Des Weiteren liest man über die Botschaft des Trumpismus, speziell über die besorgniserregende derzeitige amerikanische Politik, aber es bleibt nicht unerwähnt, dass die Fähigkeit, Werte und Macht trotz aller Unzulänglichkeiten und Widersprüche immer wieder miteinander zu versöhnen, Amerika erfolgreich gemacht habe und das stimmt hoffnungsfroh.
Über Russland schreibt der Autor ebenfalls differenziert, hier u.a. über den Aufstieg Wladimir Putins und weshalb wir unsere Goethe-Institute und deutschen Schulen in Russland verdoppeln sollten. Auch die chinesische Herausforderung ist ein breites Thema für den Politiker, um schließlich nach einer Fülle von Fakten und Überlegungen über die europäische Idee zu philosophieren.
"Europa ist die Idee vom Zusammenleben der Menschen und der Völker. Die europäische Idee stellt das Gemeinwohl über das Einzelinteresse, die kulturelle Vielfalt über den Zwang der Anpassung und die Lebensqualität über die Anhäufung von Reichtum. Europa setzt die nachhaltige Entwicklung vor die rücksichtslose Ausbeutung von Mensch und Natur. Und allem voran stellt die europäische Idee die Zusammenarbeit über einseitige Machtausübung."
Das sind wahrlich genügend gute Gründe, um der europäischen Idee zu folgen. Wie das im Einzelnen funktionieren kann, schreibt Sigmar Gabriel auch, um schließlich zu einer europäischen Antwort zu gelangen, die in vielen Beziehungen den Abbau eines Transformationsstaus bedeutet, aber nicht nur dies.
Maximal empfehlenswert
Helga König
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Zeitenwende in der Weltpolitik: Mehr Verantwortung in ungewissen Zeiten
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