"Das Recht der öffentlichen Rede ist ein kostbares Privileg, man darf es also nicht missbrauchen." (Roger Willemsen, S.203)
Wer wissen möchte, womit sich Prof. Dr. Roger Willemsen im letzten Jahr konkret befasst hat und wo er seine Zeit verbrachte, sollte dieses Buch lesen. Man verrät keine Geheimnisse, wenn man gleich vorab festhält, dass dieser Ort der Deutsche Bundestag war, denn dies offenbart schon das Cover, auf dem man den Adolf-Grimme-Preisträger das Sitzungsgeschehen beobachten sieht.
Den beredten Autor interessierte bei seinen regelmäßigen Besuchen des Parlaments während der Sitzungswochen weniger das Aktuelle als das Prinzipielle und er hat sich auch keine Sekundärinformationen von Parlamentariern oder Journalisten besorgt, wie er festhält, sondern schreibt ausschließlich über das, was er sieht und hört und was er der Lektüre von etwa 50 000 Seiten Parlamentsprotokoll entnimmt.
Sein Buch hat er Dieter Hildebrandt gewidmet, "der das Projekt leidenschaftlich verfolgt hatte und sich noch Tage vor seinem Tode auf den neuesten Stand bringen ließ." (S.397)
Willemsens Bericht beginnt am 31.Dezember 2012 mit der Neujahrsansprache. Schon hier erklärt er Begrifflichkeiten, reflektiert Gehörtes, beobachtet Gesten, hört auf Worte, fragt nach der Belastbarkeit von Rhetorik. Man erfährt gleich dort bereits Niederschmetterndes: "Die Neujahrsansprache hat keine Funktion. Die Ausstellung der Funktionslosigkeit ist ihre Funktion", (S.7).
Willemsen beschreibt zunächst genau, wo er sich ein Jahr aufhält, welchen Verhaltenskodex er befolgen muss, beschreibt die Architektur des verglasten Plenarsaals und der Kuppel, reflektiert den Bundesadler sowie anderes mehr und kommt zu dem sachlichen Ergebnis: "Die Hoheit der Repräsentationsarchitektur verrät, dass hier eine große Idee beheimatet ist", (S.15). Bei dieser Feststellung allerdings belässt er es nicht und hält am 7. Januar bereits fest: "Die Wahrheit ist: Regierungsparteien kontrollieren das Kabinett nicht, vielmehr begleiten sie ihr Tun repräsentativ, meist rühmend und dankend. Die Opposition sieht ohnmächtig zu und wird angesichts der langen vergeblichen Arbeit unbeherrschter und böser", (S.16). Der Leser ahnt, dass es spannend und Willemsen keine Lobeshymnen anstimmen wird.
Der Autor beschreibt Politiker in ihrem Gebaren während sie ihre Anliegen vortragen, äußerst sich über deren Kleidung, den Habitus und zeigt die Ohnmacht des Betrachters bei den Theateraufführungen, denn als diese erweisen sich die Parlamentssitzungen während der Lektüre immer mehr. Oder wie soll man Beobachtungen wie nachstehende anders werten? "Die Stimmung ist inzwischen von leichtherziger Gereiztheit, die Oberfläche bewegt von stark expressivem Verhalten, von Ausrufen, Schaulachen, Gesten des Abwinkens und Fäuste-Reckens, bitteren Beschuldigungen. Unterdessen verrät der Blick in den Saal die Routine, parallel ein Blättern, Krakeln, Umdrehen, gestreute Aufmerksamkeit mit reflexartigen Reinrufen", (29ff.) Wenig später liest man von den Grundakkorden in der heilige Halle, die da sind, "wechselseitige Missbilligungen und Ehrabschneidung", (vgl.: S.34)
Man erfährt immer wieder von dem, was gerade thematisiert wird. Unmöglich allerdings auf all dies im Rahmen der Rezension einzugehen, liest Persönlichkeitsskizzierungen, so etwa von Gregor Gysi, den Willemsen als den Typus des Parlamentariers benennt, der das Richtige immer wieder vergeblich sagt. Dies habe aber dessen Intelligenz nicht beschädigt, sondern wohl eher geschärft, (vgl. S. 41). Wer glaubt, daraus die politische Einstellung Willemsens ablesen zu können, irrt, denn später schreibt er auch über Gauweiler, den er als "kundig, unverblümt und entwaffend" skizziert (vgl.: S. 273). Roger Willemsen scheint sich für gute Schauspieler zu begeistern, ganz so wie der kritische Beobachter dies bei Theateraufführungen tut, wenn er in der Lage ist, Großzügigkeiten zu verteilen.
Für den Autor steht fest: "Das parlamentarische Sprechen ist also uneigentlich, wo es so tut, als diene es der Entscheidung. In Wirklichkeit steht das Resultat fest, und es geht mehr um die Schaufensterdekoration." (S.156). Offensichtlich hat sich in den Reden die Rhetorik so sehr von ihrem Gegenstand entfernt, dass der Betrachter den Eindruck gewinnt, "gewisse parlamentarische Entscheidungen können nur gefällt werden, weil es unter der Umgehung der Realitätswahrnehmung geschieht", (S.169).
Willemsen sieht, überlegt, nimmt die Glasarchitektur wahr und kann nicht umhin zu bemerken: "Dieser Raum will sagen: Es ist alles flüchtig", (S.46) Er reflektiert, ob es möglicherweise den Typus des politikverdrossenen Politikers geben kann, (siehe S.76) und dies tut er nicht zu Unrecht, bei allem, was er hört und beobachtet. Doch was denken die Besucher auf den Tribünen fragt sich der Literaturprofessor am 21. Februar 2013? "Sie hören die Zahlen, es kommen und gehen die Informationen. Schon bei der Interpretation setzt das Verständnis aus", (S.96). Eine frustrierende Antwort. Was läuft da verkehrt, frage ich mich?
Man liest von den Fragestunden, vom Recht der öffentlichen Rede, das ein kostbares Privileg ist, das man nicht missbrauchen darf. Doch was geschieht an den Sitzungstagen des Deutschen Bundestages? Ich sehe Selbstdarsteller vor meinem geistigen Auge reden und gestikulieren, während ich Willemsens brillante Beschreibungen lese und frage mich plötzlich, ob Willemsen katholisch ist und man das Jahr als eine Art Bußübung begreifen muss? Was hat Willemsen getan, um so büßen zu müssen?
Man erfährt in den fortlaufenden Berichten eingangs Tagesmeldungen, wie etwa am 12. Juni 2013, dass Walter Jens verstorben ist und liest dann stets das eine oder andere zu den Reden, die an dem jeweiligen Tag gehalten werden. Rund 13 000 Reden sind es übrigens in einer Legislaturperiode, (vgl.: S.280).
Willemsen schreibt auch über den 22. September 2013, den Wahlsonntag, von den Wahlergebnissen, vom neuen Parlament, in dem es mehr Frauen gibt, darunter mehr junge als je zuvor, was dem Schirmherrn des Afghanischen Frauenvereins wichtig ist festzuhalten.
(vgl: S.332) Als ich dann auf Seite 356 weiterlese, dass es auf der Internetseite des Deutschen Bundestages einen verwaisten Doppelpunkt gibt und zwar hinter "Aktuelle Tagesordnungen", nehme ich mir vor, an Ostern diesen anstelle eines Ostereies zu suchen. Fraglich aber, ob er dann wohl noch verwaist ist?
Am 17. Dezember stirbt Nelson Mandela. Der intellektuelle Philanthrop Roger Willemsen vergisst dies nicht zu erwähnen und auch nicht, dass zu diesem Zeitpunkt in Syrien der Winter über zerbombte Städte und jenseits der Landesgrenze über die Flüchtlingslager hereinbricht, (vgl.: S.357). Es ist der Tag, an dem im Parlamentsrestaurant Prosecco-Gläser klirren aus einem Anlass, der mit der Trauer, die Menschenfreunde an diesem Tag empfinden, wirklich nichts zu tun hat.
Es wird weiter geredet, geredet und geredet im Parlament jenes Landes, dessen Kern lt. der Kanzlerin "Leistungsbereitschaft, Engagement und Zusammenhalt ist." (S.393).
Leistungsbereitschaft und Engagement zeigte nicht zuletzt der begnadete Autor Roger Willemsen bei der harten Erarbeitung dieses wirklich lobenswerten Buches, das dazu beiträgt, dass zumindest der Zusammenhalt der Intellektuellen in puncto Einstellung zum Deutschem Bundestag für die nächsten Jahre gesichert ist.
Sehr, sehr empfehlenswert.
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