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Rezension Peter J. König: Maos Grosser Hunger, Frank Dikötter

Im Klett-Cotta Verlag ist in deutscher Übersetzung das schockierende, aber besonders informative Buch des Professor of Humanities an der Universität von Hongkong Dr. Frank Dikötter erschienen. Der Titel "Maos Grosser Hunger" deutet pauschal schon an, worum es sich in dem hier vorliegenden Werk handelt.

Aufgearbeitet wird die Zeit von 1958 bis 1962 als Mao Zedong, der uneingeschränkte Parteiführer und chinesische Staatslenker sich anschickte, das Land und seine etwa 800 Millionen Menschen mit Hilfe der Parteikader und den Milizen zum "Großen Sprung nach vorn" zu prügeln. Animiert durch die Sowjet-Union, die in einem Zeitraum von 10 Jahren nach den Ankündigungen von Generalsekretär Chruschtschow die USA in ihrer wirtschaftlichen Stärke überholen wollten, verkündete der große Führer Mao, dass China in 15 Jahren die Produktivität Englands hinter sich lassen würde, speziell in der Eisen-und Stahlproduktion.

In den 1950iger und 1960iger Jahren gehörte Großbritannien noch zu den führenden Nationen auf diesem Sektor. Um dieses Ziel zu erreichen wurde der Plan vom "Großen Sprung nach vorn" entwickelt, einer Kampagne zum Umbau der chinesischen Gesellschaft und Wirtschaft, weg von einer Agrar- und Händlergesellschaft, hin zu einer besitzlosen Verstaatlichung, gelenkt durch eine zentrale Planwirtschaft.

Das Zentralkomitee mit Mao an der Spitze gab die Ziele vor, die von den Politkadern über alle Ebenen bis in die dörfliche Grundstruktur mit Hilfe der Milizen und der Armee durchgesetzt werden mussten. Umgekehrt war der erfolgreiche Vollzug von unten nach oben zu melden, Fehlschläge beim Erreichen der Planzahlen zogen drastische Folgen für die Verantwortlichen nach sich. Um die utopischen Ziele zu erreichen, wurde zunächst eine generelle Enteignung angeordnet, sämtliches privates wurde in staatliches Eigentum umgewandelt, bis hin zum Nachttopf einem Utensil, das in jedem chinesischen Haushalt vorhanden war.

Die Ernährung der Menschen wurde durch Volksküchen organisiert, die Rationen entsprachen der Leistungsfähigkeit jedes Einzelnen oder der Anordnung durch die Partei. Die verfehlte Planwirtschaft, das Missmanagement und die Enteignung hatten verheerende Ausmaße. Anstatt die Produktivität zu erhöhen, waren der Zerfall der gewachsenen Strukturen in der Industrie und in der Landwirtschaft die Folgen. Die Versorgung der Menschen war nicht mehr gewährleistet. Es kam zu einer Hungerkatastrophe unendlichen Ausmaßes.

Millionen von Menschen, nach ersten Überblicken mehr als 50 Millionen starben unter erbärmlichsten Bedingungen, ohne dass die Führungskader eine Notwendigkeit sahen die Planungen zu verändern, um sie nach realistischen Zielen auszurichten. Tod und Verelendung wurden als Kollateralschaden der Revolution hingenommen. Erst als die chinesische Volkswirtschaft Anfang der 1960iger Jahre drohte zu kollabieren, wurde die Planwirtschaft entschärft und mit Hilfe einer wieder zugelassenen Privatnutzung und der Wiedereinführung von örtlichen Märkten die Massentötung gestoppt.

Die Volkswirtschaft begann sich wieder zu erholen. Das Leid der Menschen war jedoch unendlich, die Familienstrukturen begannen sich aufzulösen, Kinder wurden fortgegeben oder wenn sie krank und schwach waren, ließ man sie bewusst verhungern. Diebstähle durch die Hungernden wurden mit drastischen Strafen von Seiten der Politfunktionäre geahndet, dabei sind Hunderttausende zu Tode geprügelt worden. Es kam zu Kannibalismus und menschenunwürdigen Verzweiflungshandlungen, wenn Tierkadaver oder gar Leichen wieder ausgegraben wurden, um sie in gekochtem Zustand zu verschlingen.

Wenn man weiß, dass gleichzeitig Schiffsladungen von Getreide in afrikanische Länder verschenkt worden sind, als Bruderhilfe und um das Image des revolutionären China aufzubessern, merkt man mit welcher Brutalität und Menschenverachtung Mao und seine Clique das Land unterdrückt und ausgebeutet hat, und alles im Zuge einer abstrusen Ideologie und persönlichem Größenwahn. Deshalb ist es richtig ihn auf eine Stufe mit Hitler und Stalin zu stellen, er gehört wie sie zu den größten Verbrechern der Menschheitsgeschichte, auch wenn zu seiner Zeit im Westen die jungen Leute ihm mit dem Vorzeigen seiner roten Mao-Bibel huldigten.

Über Jahrzehnte war es nicht möglich geeignetes wissenschaftliches Material über diese dramatischen Vorgänge in China zu erhalten. Jegliche Einblicke in Archive in der Volksrepublik waren unmöglich. Tatsächlich aber gibt es millionenfache Aufzeichnungen über die Vorgänge aus jener Zeit, sowohl regional als auch zentral in Peking.

Prof. Dr. Frank Dikötter ist es als erstem westlichen Wissenschaftler gelungen, in regionale Archive in mehreren Provinzen in China Einblick zu erhalten. So konnte er sich ein überschaubares Bild von der Lage der damaligen Zeit machen und mit seinem Buch auf die Gräuel und Verbrechen, die Mao und sein Politbüro an den Menschen in China begangen hatte, aufzeigen. Wenn man bedenkt, dass einige Jahre nach "dem großen Sprung nach vorne" eine vielleicht noch schlimmere Kampagne mit „der Kulturrevolution“ in China folgen sollte, wird klar in welchem Maße die Menschen im "Reich der Mitte" haben leiden müssen.

Dabei ist das gesamte Ausmaß noch lange nicht erforscht, das wird erst möglich sein, wenn alle Archive zugänglich sind.

Fazit: Dieses Buch ist ein Muss für jeden Zeitgenossen der an Weltgeschichte und seinen politischen Abgründen interessiert ist.

Sehr empfehlenswert

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Rezension: Das Hohe Haus- Roger Willemsen

"Das Recht der öffentlichen Rede ist ein kostbares Privileg, man darf es also nicht missbrauchen." (Roger Willemsen, S.203)

Wer wissen möchte, womit sich Prof. Dr. Roger Willemsen im letzten Jahr konkret befasst hat und wo er seine Zeit verbrachte, sollte dieses Buch lesen. Man verrät keine Geheimnisse, wenn man gleich vorab festhält, dass dieser Ort der Deutsche Bundestag war, denn dies offenbart schon das Cover, auf dem man den Adolf-Grimme-Preisträger das Sitzungsgeschehen beobachten sieht.

Den beredten Autor interessierte bei seinen regelmäßigen Besuchen des Parlaments während der Sitzungswochen weniger das Aktuelle als das Prinzipielle und er hat sich auch keine Sekundärinformationen von Parlamentariern oder Journalisten besorgt, wie er festhält, sondern schreibt ausschließlich über das, was er sieht und hört und was er der Lektüre von etwa 50 000 Seiten Parlamentsprotokoll entnimmt.

Sein Buch hat er Dieter Hildebrandt gewidmet, "der das Projekt leidenschaftlich verfolgt hatte und sich noch Tage vor seinem Tode auf den neuesten Stand bringen ließ." (S.397)

Willemsens Bericht beginnt am 31.Dezember 2012 mit der Neujahrsansprache. Schon hier erklärt er Begrifflichkeiten, reflektiert Gehörtes, beobachtet Gesten, hört auf Worte, fragt nach der Belastbarkeit von Rhetorik. Man erfährt gleich dort bereits Niederschmetterndes: "Die Neujahrsansprache hat keine Funktion. Die Ausstellung der Funktionslosigkeit ist ihre Funktion", (S.7).

Willemsen beschreibt zunächst genau, wo er sich ein Jahr aufhält, welchen Verhaltenskodex er befolgen muss, beschreibt die Architektur des verglasten Plenarsaals und der Kuppel, reflektiert den Bundesadler sowie anderes mehr und kommt zu dem sachlichen Ergebnis: "Die Hoheit der Repräsentationsarchitektur verrät, dass hier eine große Idee beheimatet ist", (S.15). Bei dieser Feststellung allerdings belässt er es nicht und hält am 7. Januar bereits fest: "Die Wahrheit ist: Regierungsparteien kontrollieren das Kabinett nicht, vielmehr begleiten sie ihr Tun repräsentativ, meist rühmend und dankend. Die Opposition sieht ohnmächtig zu und wird angesichts der langen vergeblichen Arbeit unbeherrschter und böser", (S.16). Der Leser ahnt, dass es spannend und Willemsen keine Lobeshymnen anstimmen wird.

Der Autor beschreibt Politiker in ihrem Gebaren während sie ihre Anliegen vortragen, äußerst sich über deren Kleidung, den Habitus und zeigt die Ohnmacht des Betrachters bei den Theateraufführungen, denn als diese erweisen sich die Parlamentssitzungen während der Lektüre immer mehr. Oder wie soll man Beobachtungen wie nachstehende anders werten? "Die Stimmung ist inzwischen von leichtherziger Gereiztheit, die Oberfläche bewegt von stark expressivem Verhalten, von Ausrufen, Schaulachen, Gesten des Abwinkens und Fäuste-Reckens, bitteren Beschuldigungen. Unterdessen verrät der Blick in den Saal die Routine, parallel ein Blättern, Krakeln, Umdrehen, gestreute Aufmerksamkeit mit reflexartigen Reinrufen", (29ff.) Wenig später liest man von den Grundakkorden in der heilige Halle, die da sind, "wechselseitige Missbilligungen und Ehrabschneidung", (vgl.: S.34)

Man erfährt immer wieder von dem, was gerade thematisiert wird. Unmöglich allerdings auf all dies im Rahmen der Rezension einzugehen, liest Persönlichkeitsskizzierungen, so etwa von Gregor Gysi, den Willemsen als den Typus des Parlamentariers benennt, der das Richtige immer wieder vergeblich sagt. Dies habe aber dessen Intelligenz nicht beschädigt, sondern wohl eher geschärft, (vgl. S. 41). Wer glaubt, daraus die politische Einstellung Willemsens ablesen zu können, irrt, denn später schreibt er auch über Gauweiler, den er als "kundig, unverblümt und entwaffend" skizziert (vgl.: S. 273). Roger Willemsen scheint sich für gute Schauspieler zu begeistern, ganz so wie der kritische Beobachter dies bei Theateraufführungen tut, wenn er  in der Lage ist, Großzügigkeiten zu verteilen.

Für den Autor steht fest: "Das parlamentarische Sprechen ist also uneigentlich, wo es so tut, als diene es der Entscheidung. In Wirklichkeit steht das Resultat fest, und es geht mehr um die Schaufensterdekoration." (S.156). Offensichtlich hat sich in den Reden die Rhetorik so sehr von ihrem Gegenstand entfernt, dass der Betrachter den Eindruck gewinnt, "gewisse parlamentarische Entscheidungen können nur gefällt werden, weil es unter der Umgehung der Realitätswahrnehmung geschieht", (S.169).

Willemsen sieht, überlegt,  nimmt die Glasarchitektur wahr  und kann nicht umhin zu bemerken: "Dieser Raum will sagen: Es ist alles flüchtig", (S.46) Er reflektiert, ob es möglicherweise den Typus des politikverdrossenen Politikers geben kann, (siehe S.76) und dies tut er nicht zu Unrecht, bei allem, was er hört und beobachtet. Doch was denken die Besucher auf den Tribünen fragt sich der Literaturprofessor am 21. Februar 2013? "Sie hören die Zahlen, es kommen und gehen die Informationen. Schon bei der Interpretation setzt das Verständnis aus", (S.96). Eine frustrierende Antwort. Was läuft da verkehrt, frage ich mich?

Man liest von den Fragestunden, vom Recht der öffentlichen Rede, das ein kostbares Privileg ist, das man nicht missbrauchen darf. Doch was geschieht an den Sitzungstagen des Deutschen Bundestages? Ich sehe Selbstdarsteller vor meinem geistigen Auge reden und gestikulieren, während ich Willemsens brillante Beschreibungen lese und frage mich plötzlich, ob Willemsen katholisch ist und man das Jahr als eine Art Bußübung begreifen muss? Was hat Willemsen getan, um so büßen zu müssen?

Man erfährt in den fortlaufenden Berichten eingangs Tagesmeldungen, wie etwa am 12. Juni 2013, dass Walter Jens verstorben ist und liest dann stets das eine oder andere zu den Reden, die an dem jeweiligen Tag gehalten werden. Rund 13 000 Reden sind es übrigens in einer Legislaturperiode, (vgl.: S.280).

Willemsen schreibt auch über den 22. September 2013, den Wahlsonntag, von den Wahlergebnissen, vom neuen Parlament, in dem es mehr Frauen gibt, darunter mehr junge als je zuvor, was dem Schirmherrn des Afghanischen Frauenvereins wichtig ist festzuhalten. (vgl: S.332) Als ich dann auf Seite 356 weiterlese, dass es auf der Internetseite des Deutschen Bundestages einen verwaisten Doppelpunkt gibt und zwar hinter "Aktuelle Tagesordnungen", nehme ich mir vor, an Ostern diesen anstelle eines Ostereies zu suchen. Fraglich aber, ob er dann wohl noch verwaist ist?

Am 17. Dezember stirbt Nelson Mandela. Der intellektuelle Philanthrop Roger Willemsen vergisst dies nicht zu erwähnen und auch nicht, dass zu diesem Zeitpunkt in Syrien der Winter über zerbombte Städte und jenseits der Landesgrenze über die Flüchtlingslager hereinbricht, (vgl.: S.357). Es ist der Tag, an dem im Parlamentsrestaurant Prosecco-Gläser klirren aus einem Anlass, der mit der Trauer, die Menschenfreunde an diesem Tag empfinden,  wirklich nichts zu tun hat.

Es wird weiter geredet, geredet und geredet im Parlament jenes Landes, dessen Kern lt. der Kanzlerin "Leistungsbereitschaft, Engagement und Zusammenhalt ist." (S.393).

Leistungsbereitschaft und Engagement zeigte nicht zuletzt der begnadete Autor Roger Willemsen bei der harten Erarbeitung dieses wirklich lobenswerten Buches, das dazu beiträgt, dass zumindest der Zusammenhalt der Intellektuellen in puncto Einstellung zum Deutschem Bundestag  für die nächsten Jahre gesichert ist.

Sehr, sehr empfehlenswert.

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Rezension: "Der Baron, die Juden und die Nazis"- Jutta Ditfurth

"Es kommt mir so vor, als ob es in diesem Land eine veröffentlichte und eine reale Wahrheit gibt." (Jutta Ditfurth)

Verfasserin dieses bemerkenswerten Sachbuches ist die Soziologin Jutta Ditfurth, die adeliger Herkunft ist und nicht ohne Grund dem elitären Denken vieler Aristokraten mehr als nur skeptisch gegenüber steht. In ihrem jüngsten Buch "Der Baron, die Juden und die Nazis" gibt sie schonungslos Familiengeschichte preis und berichtet von den Verstrickungen ihrer Vorfahren mit den Nazis.  Dabei sollte man wissen, dass mit "Familie" beim Adel nicht die bürgerliche Eltern-Kind-Kleinfamilie gemeint ist, sondern vielmehr die Sippe bzw. das Geschlecht, das sich über blutsmäßige, patrilineare Verwandschaftbande und ein gemeinsames Abstammungsbewusstsein definierte, (vgl.: S.209).

Weil  Ditfurth über ihre "Familie"  und über  abgründige Verhaltensmuster einer ganzen Klasse in vergangenen Jahrhunderten schreibt, ist ihr Sachbuch sehr wissenschaftlich angelegt und verfügt über eine beachtliche Anzahl, ihre Aussagen belegenden Fußnoten, Quellennachweise und ein umfangreiches Literaturverzeichnis. Hier wird nicht fabuliert. Hier wird nachgewiesen. Hier kann man ihr nichts anhängen.  Sie wartet mit Fakten auf. Ein Thema wie ihres macht eine solche Vorgehensweise erforderlich. Ohne Frage.

Lassen sie mich meine Ausführungen mit einer Textstelle beginnen, die zu Anfang des 10. Kapitels steht: "Die Zahl der Adeligen, die die Juden nicht ablehnten und die Weimarer Republik nicht auf den Scheiterhaufen wünschten, war in Wahrheit winzig. Dass später die adeligen Mitglieder des 20. Juli 1944 allesamt tapfere Demokraten und niemals lebensgefährliche Gegner der deutschen und europäischen Juden gewesen sein sollen, ist ein überaus erfolgreicher Nachkriegsmythos. Dahinter versteckt sich ein  großer Teil des so genannten Adels bis heute.“(Zitat: S.203)

Die Autorin beginnt ihr Buch mit einem Reisebericht, der in das Jahr 1990 zurückführt. Gemeinsam mit ihrer Mutter besucht sie ein Anwesen ihrer Vorfahren im Osten Deutschlands. Im nahegelegenen Dorf des besuchten Ritterguts sieht sie in einer Dachkammer u.a. ein Ölbild ihrer Urgroßmutter, der Freiin von Beust (1850-1936)  und erhält seitens des Pfarrers Zugang zur Dorfchronik. In der Folge liest man dann Näheres zu Gertrud von Beust, einer kriegsbegeisterten Dame, "die am liebsten selbst in die Schlacht gezogen wäre". Es führt zu weit, nun das Leben dieser Adeligen nachzuzeichnen, doch zu erwähnen ist, dass diese Frau antisemitisch war.

Ditfurth nimmt ihrer Urgroßmutter zum Anlass im Anschluss über den Antisemitismus des Adels in der Romantik aufzuklären und fragt: "Woher hatten die adeligen Menschen wie meine Urgroßmutter ihr Wahnbild über die Juden?"(Zitat: S.33). Ich staunte nicht schlecht als ich hier las, welche Geisteshaltung Dichter wie Ernst Moritz Arndt umtrieb und war überrascht als ich weiter las, dass die "Deutsche Tischgesellschaft" ein Beleg dafür ist, dass der Rasseantisemitismus schon in der Emanzipationszeit in den Köpfen der deutschen Elite und hier in erster Linie des Adels Einzug hielt." (vgl.: S.40)

Achim von Arnim sprach in seiner Tischrede von Hostien-und Ritualmordlegenden und rechtfertigte Pogrome, wie Ditfurth an Textstellen belegt. "Deutsche Tischgesellschaften" waren ein Angriff auf jüdische Salonniéren und ihr emanzipatorisches Denken. Die Mitglieder dieser Tischgesellschaften zeichneten sich durch nationalistischen Dünkel, elitäres Denken, Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit aus." (vgl.S.50).

Über Goethes Einstellung im Hinblick auf die Frage "Sollten Christen Juden heiraten dürfen?" erfährt man Aufschlussreiches und liest in der Folge, auf welche Weise in jenen Tagen die Juden unterdrückt und stigmatisiert wurden.

Im Königreich Preußen blieben jüdische Jurastudenten von der Promotion und von der Anstellung an einer juristischen Fakultät ausgeschlossen. Juden durften zwar Justiz-Kommissare und Anwälte werden, nicht jedoch Richter oder Notare. Generell war es ihnen untersagt,  richterliche, polizeiliche oder Verwaltungsfunktionen auszuüben, (vgl.: S.79).

Jutta Ditfurth beschreibt in ihrem Werk nicht zuletzt den Werdegang ihres Urgroßonkels des Schriftstellers und Balladendichters Börries Freiherr von Münchhausen, dessen Einstellung zu Juden mehr als  nur ambivalent war. Sie schreibt von seinem Buch "Juda" und zu seiner Beziehung zu Ephraim Moses Lilien, der sich durch seinen Anteil an diesem Buch in jüdischen Kreisen als Künstler etablieren vermochte, (vgl.:157).

Ditfurth lässt nicht unerwähnt, dass das Motiv ihres Großonkels für das Buch nicht der jüdische Mensch, seine soziale Lage, die Geschichte der Stigmatisierung, Verfolgung und Ermordung über die Jahrhunderte hinweg, sondern das Interesse an jüdischen Helden war, (vgl.: S.158). Trotz dieses Buches, das als eines der Lieblingsbücher in jüdischen Häusern galt, wie die Autorin vermerkt, entwickelte sich Münchhausen mehr als bloß grenzwertig im Hinblick auf Juden. Ihn im Schlepptau führt Ditfurth den Leser durch die Zeitläufe hin zur NS-Zeit und zeigt die antisemitische Grundhaltung der adeligen Oberschicht, die aufgrund der Niederlage durch den 1. Weltkrieg ihre Privilegien verloren hatten.

Der Balladenschreiber wurde zu einem Rassenideologen, dessen zentraler Gedanke nach dem verlorenen Krieg die Rassenreinheit war. Er träumt von "Menschenzüchtung". Während der NS-Zeit schmeichelte er der herrschenden Elite und attackierte Künstler, die Modernes schufen oder "unreinen Blutes" waren, (vgl.: S.272).

Dass der Adelsmann schließlich 1945 Selbstmord  begangen hat, wundert mich nicht. Seine Verstrickungen ließen für ihn nichts anders zu. Ditfurth fasst zusammen, dass dieser Großonkel ein Nazi, Antisemit, kulturpolitischer Strippenzieher war, der jüdische Menschen aussortiert hatte und Fotos seiner geliebten Nazi-Führer sammelte, der mit NS-Verbrechern am Kamin geplaudert und in der Saale gebadet hatte, Goebbels, Hess und Frick angeschwärmt und mit ihnen völlig übereingestimmt hatte..." (S. 297).  Münchhausen war keineswegs eine Ausnahme, sondern dachte wie viele Adelige in jener Zeit.

Jutta Ditfurth findet übrigens unter ihren Verwandten nur einen einzigen, "der Juden und Sozialdemokraten nicht verabscheut hatte". (S.228). Ihre Verwandten nennen diesen mutigen Mann "das rote  Biest von Brandenstein."

Die Autorin zeigt hervorragend in ihrem bemerkenswerten Buch, dass bereits im 19. Jahrhundert der Boden für den unsäglichen Antisemitismus des 20. Jahrhunderts bereitet wurde, der zur Ermordung von 6 Millionen Juden führte. Sie vergisst dabei keineswegs den 20. Juli 1944 zu beleuchten und unterstreicht, dass die Archive der meisten adeligen und hochadeligen Familien Forschern mit NS-kritischem Erkenntnisinteresse bis zum heutigen Tage verschlossen bleiben. Jutta Ditfurth hat einen Fuß in diese Tür gestellt, um unliebsame Wahrheiten ans Licht zu zerren. Nicht alle werden sie dafür beglückwünschen. Ich schon.

Ein hervorragendes, gut recherchiertes Buch. Sehr aufschlussreich.

Sehr empfehlenswert.

Helga König

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